Übers Zimmer

Ich wohne seit 1998 im August auf dem 5. Flur im 6stöckigen Wohnhaus. Mein Zimmer ist so klein wie ich, es ist ungefähr noch nicht 12 Quadrat. Man sagt, es sei sehr klein aber ich bin zufrieden damit und es ist gut so.
Im Zimmer sind mehrere Dinge, ein Einzelbett, ein Regal, ein CD-Ständer, ein Schreibtisch, ein kleiner Rolltisch, ein schwarzer Drehstuhl, eine Tischlampe, eine Schreibmaschine, ein I-Book, ein großer Wandschrank, ein Waschbecken, ein Wasserhahn, ein Wandspiegel, ein Heizungskörper, ein Mülleimer, ein Fenster, eine Aus- und Eingangstür. Es sind teilweise meine Eigentumsstücke und zum Teil die daseiende Wohnanlage.
Was mich interessiert, sind die verschiedenen persönlichen Rollen des einzelnen Dinges für mich innerhalb von 24 Stunden. Womit soll ich anfangen, um sie vorzustellen?
Sind Sie neugierig auf mein Holzregal?
Es stammt von IKEA, steht rechts an der Wand. Und seine Höhe ist fast bis zur Decke und es ist 6stöckig, wie mein Wohnhaus. Drinnen liegen viele Bücher. Was mein Lieblingsbuch davon ist … wenn Sie mich fragen, dann kann ich leider nicht so einfach darauf antworten, weil die meisten Bücher im Regal von mir gern gelesen worden sind.
Jeder Schriftsteller und jede Menge Künstler sind von mir geliebt. Beckett wartet auf Godot, Hemingway angelt immer noch mit dem alten Mann den Fisch, Wittgenstein nummeriert weiter seine Notizen, Kant kritisiert rein vernünftig meine farbige Zeichnung, Mayröckers Ton ist zur Zeit schwermütig wegen des Todes ihres Mannes Ernst Jandl, Ringelnatz findet sein Herz im Muschelkalk, Patrik Süßkind parfümiert sich so fleißig jeden Tag, Ionesco singt mit seinem bekannten kahlen Sänger auf dem Stuhl usw.
Aber momentan plaudere ich oft mit Robert Walser und verbringe viel Zeit mit ihm. Früher habe ich nur seinen Namen gekannt aber seit der Begegnung mit ihm letzten Monat finde ich ihn toll. Ab und zu langweile ich mich mit ihm, weil er so schweigsam ist. Aber bei jeder Langeweile sehe ich seine halbschläfigen Augen, höre seine wahnsinnig interessante Schweigestimme und mag sie sehr gern. Sie ist leise aber präzis und erzählerisch. Sein Schweizer Akzent klingt melodisch, schüchtern und zurückhaltend. Aber sein Blick auf die Dinge und auf das Geschehen ist tierisch instinktartig und scharf wie ein Messer. Manchmal habe ich Angst davor, dass er schon weiß, dass ich in ihm verliebt bin, obwohl ich mich cool benehme und versuche ihn wie einen normalen Freund zu behandeln. Na ja.
Eines Tages beim Spaziergang sprach er mit mir über einen Gehülfen. Er heißt Joseph. Als er mir seinen Namen Joseph bekannt machte, blitzte meine Neugierde einen Augenblick in hoher Spannung in meinem nebligen Kopf. Warum? Ich kannte schon einen Joseph aus Italien, hatte meinen europäischen ersten Kuss mit ihm, es war schon lange her. Ich vergaß seine rosarote Stimme aber erinnerte mich an seine Fragestellung „darf ich dich küssen?” und an meine Antwort „warum?” Trotz der Plumpheit geschah der Kuss. Ich stellte dadurch die zwei Wahrheiten fest, erstens, die europäische Nase ist zu lang zum Küssen. Ich hatte Sorge, ob er überhaupt während des Küssens atmen konnte. Sein Mund saugte innerhalb kurzer Zeit rasch meinen ungeschminkten Mund, die beiden offenen Münde waren mit den schleimigen Zungen verstopft. Und seine Nase drückte sich an meine heiße rechte Wange mehr und mehr. Die heisse Luft aus seinen Nasenlöchern kam näher und näher. Ich dachte, oh, Joseph, wodurch kannst du atmen, du wirst bald wegen des Küssens ersticken. Gott sei dank, er ist im Leben.
Dieser atmungslose Kuss übt einen großen Einfluss auf meine Zeichnung der Physiognomie aus. Die Folge ist dass die Nase auf der Gesichtspartie auf dem Papier absolut groß ist. Zweitens, der Kuss ist nass.
Auf jedem Fall hat Herr Walser mir vorgeschlagen, nächsten Sonntag die Alster entlang zu spazieren.
Ach, ich habe vergessen, Sie mit meinem netten Opa Leonardo Da Vinci
bekannt zu machen. Er ist unterwegs nach Italien wegen der letzten Mahlzeit mit seinen gläubigen Freunden. An Weihnachten haben sie ihn zum Essen eingeladen. Er kommt bald wieder.
So, das ist die Umgebung meines Regals.
Neben dem Regal steht der CD-Ständer, der besteht auch aus Holz und ist 20cm breit, 17cm tief und 200cm hoch. 135 CDs sind da. Die Musikrichtung reicht von Klassik bis zu Pop. Wie immer mag ich jede Musik je nach Stimmung.
Die meisten Melodien aus dem hohen schlanken CD-Ständer stellen meine reale Bühne in der Vergangenheit dar, wann ich gelacht habe, wo ich war. Mein Kopf dreht sich, wie die alten Schallplatten. Beispielsweise, Flötenkonzerte von Mozart höre ich gern am Morgen, ich nenne sie einen Morgenvogel. Im Sommer früh morgens (meinetwegen ab 10 Uhr) singen die lauten kleinen Vögelchen im Hinterhof und holen mich aus dem lauwarmen gemütlichen Bett.
Die Sonne reflektiert sich hellgelb auf meinem Gesicht. Ich muss unnüchtern munter sein. Mein gelber Vorhang, mein gelb-karierter Bettbezug und mein gelbes Handtuch tarnen sich im gelben Schein. Falls es so ist, habe ich normalerweise einen guten Morgen.
Die Bilder einer Ausstellung von Mussorgsky lässt mich an verstorbenem Prof. KP Brehmer erinnern. Rhapsody in Blue von Gershwin ist verbunden mit der Thalia Probebühne „Blau in Blau” und selbstverständlich mit meinen kuscheligen Freunden Christin und Jochen. Der Ring des Nibelungen vom großnasigen Herrn stellt den Kontakt zu meiner Mainzer Zeit her. Damals las ich „menschliches allzumenschliches” von Nietzsche und liebte ihn fast wie verrückt. So viele Nächte war ich seinetwegen wach, stand am nächsten Morgen spät auf und zweifellos mit dick geschwollen Augen. Komischerweise tat jeder Satz von ihm mir so menschlich allzumenschlich weh. Ich lebte mehrere Jahre in Deutschland fast optimal sprachlos. Und wie Sie wissen, war Wagner sein guter Ex-Freund, bevor diese Musik ihn von Wagner trennte. Mein liebster Kabarettist ist Georg Kreisler. Seine Lieder bringen mich zum Todlachen und machen mich gleichzeitig melancholisch herzberührend. My favorite songs von Kreisler sind „die Chinesen” und „Hat jemand hier vielleicht Matthias gesehen”. Weil Matthias mein ältester deutscher Freund ist. „Officium“ ist die Erinnerung an Weihnachten letztes Jahrhundert 1999 und an Zahnschmerzen von Prof. Dr. Uwe Schneede.
Rock`n Roll ist natürlich der besoffene Tanz mit den warmherzigen Freunden. Adriano Celentano ist ein Stück der Memoire an Michi und Max. Überdies immer noch viel mehr aber ich soll hier aufhören, um weiter zu kommen.
Auf der linken Seite vom CD-Ständer tief daunter steht der Schreibtisch, an dem ich jetzt sitze und tippe. Die meiste Zeit zu Hause bleibe ich hier. Über dem Tisch hängt mein Schutzengel. Er ist ziemlich neu hier. Bei einer Einweihungsparty schenkte er mir die himmlische Aura von Cupido, natürlich habe ich in mir die Liebe, endlich.
Der linke Rand des Schreibtisches hat eine wichtige Bedeutung, das heißt, die linke Wand ist zu Ende. Anders gesagt, da gibt es eine Ecke. Diesen Wendepunkt mag ich besonders im Raum, es ist faszinierend. Oberhalb der Stirnseite meines Schreibtisches ist ein glasiges Quadrat, ein einziges Fenster in meinem Wohnraum. Das ist eine Leinwand für einen stillen passiven Augenkontakt mit der Außenwelt. Ich erfahre wahnsinnig vieles durch das Glasquadrat. Es zeigt mir täglich eine undekorierte Tatsache, wie das Wetter ist, welche Farbtöne jede Jahreszeit hat, wie die kleinen Minikinder auf dem Spielplatz sich bewegen und schreien, wann ein Eichhörnchen den Wasserteller ableckt. Diese lebhafte Kinografie schlingt sich um den Farbpinselstrich, der in jeglichen Tagesblättern lesbar ist. Die Tagebuchzeichnung.
Deshalb lehne ich mich gern an der Fensterbank an, während ich eine Zigarette rauche.
Dem Eck gegenüber ist mein Atelier, es könnte der winzigste Arbeitsplatz eines Künstlers sein. Von der Ecke bis zur Arbeitsfläche dauerte es nicht ganz zwei meiner Schritte. Da steht mein kleiner Rolltisch, den ich beim Umzug von Mainz nach Hamburg mitgebracht habe. Darauf sind die Ölfarben und meine Lieblingspinsel (Nr.6). Die gespeicherten Tageserfahrungen werden an der Stelle verdaut und reaktiviert. Die meisten Tagebuchzeichnungen entstanden an diesem Platz. Wie viele Stunden verbringe ich dort? Ich weiß nicht genau aber ich hätte Lust irgendwann die Arbeitszeit zu rechnen. Bin ich doch dumm?
Im rechten Winkel dazu liegt mein Einzelbett, es ist länger als ich und liegt linkswändig voll. Es ist das einzige waagerecht liegende Möbel im Zimmer. Als ein Stück Möbel nimmt es zuviel Platz im kleinen Zimmer. Es ist doch wahr. Trotz der unverschämten Platzierung kann ich es nicht hassen, denn es bedeutet „gute Nacht und träume was Schönes”. Die Haufen Träume, die ich mit geschlossenen Augen gehabt habe, die ich meistens vergessen habe, liebe ich, egal, Alpträume eingeschlossen.
An der dritten Ecke zwischen der Ausgangstür und dem Bett ist ein Abstellraum, worin es sehr heimlich dunkel ist. Man kann gar nicht wissen, was da versteckt ist. Dieser zirka 2 Quadratmeter große Eckraum ist starr zugeschlossen mit einem metallenen Handgriff aber ohne Schlüssel. Ich öffne die Tür durchschnittlich zwei- oder dreimal am Tag, um die Klamotten anzuziehen und auszuziehen. Aber das ist kein Umkleideraum wie in einem Modesalon. Ausgenommen die gehängten Kleidungen sind die meisten Dinge im Abstellraum in Kartons eingepackt. So oft passiert es mir, ich weiß nicht genau, was drinnen ist. Sie sind etwas Störendes im Alltag aber gleichzeitig etwas Wichtiges nach wie vor plötzlich eines Tages. Deswegen kann ich sie nicht so einfach wegschmeißen und behalte sie immer noch trotz Platzmangel, tja.
Gegenüber von dem Abstellraum, neben der Eingangstür rechts, befindet sich ein weißes Waschbecken mit kalt-warm Wasserhahn. Über dem Waschbecken, direkt an der Wand ist ein rechteckiger Spiegel. Er hängt halbkopfhoch. Wenn ich davor stehe, sehe ich nur mein waagerecht halbiertes Gesicht, ungefähr von der Nase, sicher bis über die Stirn. In dieser letzten Ecke geht ein Tag vorbei und geht noch ein Tag vorbei. Mein Tagesritual an der weißen Kachelecke ist, wie typisch bei jedem, täglich zweimal ordentlich die Zähne zu putzen.
Über meinem schwarzhaarigen Kopf ist eine weiß bemalte kahle Decke und unter meiner 36ger Schuhgröße liegt das graue Laminat.
Das war’s.